Die Melodie der Augen

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Ein leerer, weißer Raum. Eine perfekte Manifestation meiner Gedanken. Es war unendlich, ohne Anfang oder Ende, eine Art metaphysische Leinwand, die auf ihre Bemalung wartete.

An diesem Ort war es still, bis auf ein leises Geräusch. Es war ein Flüstern, ein sanftes Zucken, ein Klicken und Klacken. Ohne sie zu sehen, wusste ich sofort, worum es sich handelte. Als ob sich dieser Gedanke oder besser gesagt, dieses Wissen von Anfang an in meinem Kopf befand. Eine weit entfernte Erinnerung, die ich immer zu gern vergaß oder einst wegsperrte.

Auch wenn es mir schwerfiel, ließ ich diese Erinnerung zu. Eine Erinnerung an Augen, viele Augen, die blinzelten und mich ansahen. Sie waren unsichtbar, doch so präsent wie die Luft um mich herum. Sie machten kein Geräusch, und doch hörte ich sie. Eine surreale Symphonie in dieser endlosen weißen Wirklichkeit. Gespielt von meinen Erinnerungen und dirigiert von meinem Unterbewusstsein.

Vor mir, eine leere Leinwand, wartend gefüllt zu werden. Vor ihr, ein Stift, schwebend und wartend von mir berührt zu werden. Die leere Leinwand war fast so weiß wie der Raum selbst, doch unterschied sich leicht von der restlichen Umgebung.

Ich ging zum Stift und nahm sie in die Hand. Die Spitze war so schwarz wie Ebenholz, ein starker Kontrast zu dem makellosen Weiß, das mich umgab. Der Griff des Stiftes war aus einem rauen Stoff, der meine Hand schmerzte. Und trotzdem ließ ich ihn nicht fallen. Denn für mich war es wie eine Strafe. Eine Notwendigkeit, die ich verdient habe.

So begann ich mit der groben Kontur, die die Form eines Auges umschrieb. Versucht, die Kontrolle über meinen Verstand zu behalten, drückte ich die Spitze sanft auf die Leinwand, zog ihn sorgfältig über die Oberfläche und zeichnete die geschwungene Linie eines geschlossenen Augenlids. Dann wurde das Auge geöffnet, indem ich innerhalb der Kontur die Iris skizzierte. Das für mich schwarz-weiße Fenster zur düsteren Seele der Kreatur, der ich mit diesem Auge verband. Und trotz meiner Abneigung platzierte ich die Iris mit Bedacht. Nicht perfekt mittig, sondern leicht durch das obere Augenlid verdeckt, was dem Auge eine realistische Perspektive verlieh. Jedenfalls so weit es meine Fähigkeiten zuließen.

Anschließend zeichnete ich im Zentrum der Iris die Pupille, ein kleiner, dunkler Punkt. Das Herz, das Zentrum, das Licht aufnahm und in die Tiefe des Auges zuließ. Jedoch nur stets so weit offen, damit wir nicht geblendet werden. Zusätzlich ließ ich eine kleine Fläche frei, um ein winziges Licht zu spiegeln. Eine kleine weiße Reflexion, die das Auge lebendiger machen sollte.

Mit bedächtigen Strichen skizzierte ich die feinen Linien der Augenlider, die der natürlichen Wölbung des Auges folgten. Sie umschlossen es, gaben ihm Form, Volumen und ließen es aus der flachen Leinwand hervortreten. Dann folgten die Wimpern. Lange, flirrende Linien, die von den Lidern ausgingen und dem Auge eine fast dramatische Intensität verliehen. Sie waren wie dunkle Federspule, die aus den Rändern hervorsprangen. Dichter und länger am Außenrand, kürzer und weniger dicht am unteren Lid.

Ich fügte noch Schatten und Konturen hinzu, um dem Bild Tiefe und Dreidimensionalität zu verleihen. Sanft ließ ich den Stift über die weiße Sklera gleiten, zeichnete feine Linien und Schattierungen, die dem Auge Form und Volumen gaben. Schließlich verfeinerte ich noch einmal die Iris, um ihr mehr Leben zu geben. Feine Linien und weitere Schattierungen strahlten von der dunklen Pupille aus. Ich erschuf ein Muster aus weiteren Formen, die das Auge einzigartig und lebendig machten.

Mit jedem Strich, den ich auf die Leinwand zeichnete, wurde der Schmerz größer, doch ignorierte ich sie und begann mit dem nächsten unsichtbaren Auge. Alle sollten an diesem Ort ein neues zu Hause finden.

Jedes Auge hatte seine eigene Geschichte, jedes fügte der Leinwand ein neues Element hinzu und jedes Mal hatte ich das Gefühl, jedes Auge schon einmal gesehen zu haben. So zeichnete ich weiter, das Blinzeln der Augen führte meinen Stift. Sie wurden meine unsichtbare Muse in diesem endlosen weißen Raum. Meine Inspiration und meine Gefängniswärter. Es folgten kleine Linien, lange geschweifte Kreise, weitere kleine Linien und viele Punkte.

Das Schmerzgefühl wurde schwächer, je mehr ich zeichnete. Ersetzt durch ein Gefühl der Zufriedenheit, der Erfüllung. Es war, als würde jeder Strich des Stiftes die Augen zum Leben erwecken, ihre Unsichtbarkeit aufheben, während die einst leere Leinwand ebenso größer wurde und sich über die ganze Leere des Raumes streckte.

Schließlich, nachdem ich die letzte Wimper des letzten Auges gezeichnet hatte, trat ich zurück. Vor mir, über mir, unter mir, hinter mir, überall. Die einst leere Leinwand, die einst leere Welt um mich herum. Alles war erfüllt von einem Meer aus Augen. Sie waren nicht länger unsichtbar, nicht länger stumm. Sie hatten eine Stimme, eine Form, eine Präsenz, eine Existenz. Etwas, dass ich ihnen abgesprochen habe, ihnen stahl, nur um mich selbst zu schützen.

In diesem Moment verstummte das Blinzeln. Die Augen auf der Leinwand starrten mich an, doch sie waren nicht länger beängstigend. Sie waren ein Teil von mir, ein Teil meiner Geschichte, ein Teil meines Ichs.

Was mir diese Augen einst antaten, war mir egal. Welche Feindschaft ich gegen sie schwor, welches Gefängnis ich für sie aussuchte, welche Untaten ich ihnen auch einst wünschte. Alles hatte an diesem Ort keine Bedeutung. Alles Schlechte hatte kein Recht zu existieren.

Ich trat weiter zurück und sah in den Raum, der nicht länger leer war. Der Stift in meiner Hand, jetzt ein sanftes Pulsieren, hatte seine Aufgabe erfüllt. Die Strafe war vorbei, die Belohnung war da.

In diesem hellen Raum, dieser hellen Welt voller Augen, hatte ich die Leere überwunden. Ich hatte das Nichts in etwas verwandelt. Es war ein fantastischer Moment, ein Augenblick der Schöpfung, ein Tanz zwischen Realität und Fantasie. Es war so voll wie das alles.

Ich verweilte noch einige Zeit an diesem Ort. Mein Blick fixiert auf das, was ich erschaffen habe. Sie sahen mich weiterhin an und folgten all meinen Bewegungen. Es war wunderbar. Jedenfalls, bis ich den Stift erneut betrachten wollte. Denn dieser war verschwunden und mit ihm meine Macht an diesem Ort.

Dennoch fühlte ich mich sicher. Jedenfalls bis sich die Pupillen der Augen vergrößerten. Sie wurden dunkler als das Schwarz des Stiftes, überdeckten die Iris hin zum vollständigen Auge. Daraufhin schlossen sich alle zur gleichen Zeit zu vielen Linien, die mich umgaben.

Jene Linien wurden dicker und breiter, bis sich der komplette Raum in eine pechschwarze Wirklichkeit verwandelte. Verzweifelt versuchte ich zu entkommen, etwas zu erreichen und wollte meine Augen schließen. Doch hatte ich keine. Panisch berührte ich mein Gesicht und da war nichts. Stattdessen umschlang mich die Finsternis. Sie bedeckte meine Füße, meine Waden, meine Oberschenkel, meine Becken, meinen Rumpf, meine Brust, meine Arme, meinen Hals und schließlich meinen Kopf.

Wo ich anschließend war, wusste ich nicht. Der Augenblick war weder lang noch kurz oder gar bedeutend für mich, bis ich etwas Helles wahrnahm und meine eigenen Augen öffnen konnte. Ich erblickte den kleinen Bonsai vor meinem Fenster. Wieder in meiner Welt, in meiner Wirklichkeit angekommen, richtete ich mich langsam auf. Vollkommen ermüdet nahm ich nur das Summen der Lüfter meines Rechners wahr und das Zwitschern der Vögel im Garten unter den heißen Strahlen der Sonne.

Als ich meine Hand fester zusammendrückte, bemerkte ich etwas darin. Es war ein einfacher Stift mit einer dunklen Spitze – nichts Besonderes. Doch, vor mir, ein leeres Blatt Papier.


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