Inmitten eines modernen Gebäudes, eingebettet im Herzen der Stadt, befand sich das Heiligtum von Sebastian. Es war ein monolithischer Koloss aus Glas und Stahl, doch sein Labor war in einer der ältesten Sektionen untergebracht, die einen markanten Kontrast zum Rest des Gebäudes bildeten.
Die Wände, die einst strahlend weiß waren, hatten im Laufe der Jahre einen leicht gelblichen Ton angenommen. Die Farbe blätterte an einigen Stellen ab und enthüllte den rohen Beton darunter, der Zeugnis von den vielen Jahren ablegte, die diese Räume gesehen hatten. Die Fähigkeit zu sehen, war keinesfalls eine Voraussetzung, um zu merken, dass es sich um alte Räume handelte. Allein schon der Geruch nach etwas Muffigem und Modrigem zeigte, dass der Zersetzungsprozess diverser Bakterien bereits weit vorangeschritten war.
Das Labor selbst war eine ekletische Mischung aus Alt und Neu. Trotz des leicht verfallenen Äußeren war der Raum gefüllt mit den neuesten technologischen Errungenschaften, die Sebastian aus aller Welt zusammentrieb.
Leuchtende Bildschirme und komplexe Maschinen beherrschten das Labor. Sie waren alle durch ein Konstrukt von Drähten, die sich wie ein Spinnennetz über den gesamten Raum erstreckten, verbunden.
Eine Reihe von hochmodernen Analysegeräten und Mikroskopen standen auf sauberen Edelstahlflächen, und der schimmernde Glanz der neusten Computermodelle bildete einen starken Kontrast zu den abgenutzten Holzplatten des Bodens. Eine Ecke war vollständig einem gewaltigen Supercomputer mit großem Bildschirm gewidmet, dessen sanftes Summen den Raum erfüllte.
Ein massiver Schreibtisch, übersät mit technischen Zeichnungen und Formeln, stand im Herzen des Raums. Sebastian hatte ihn seit seinem ersten Tag im Labor benutzt, und die Tinte, die in seine Oberfläche eingraviert war, bildete eine Chronik seiner bisherigen Entdeckungen und Errungenschaften. Was letztlich nicht viele waren.
Trotz des hochmodernen Aussehens gab es eine gewisse Behaglichkeit im Labor, damit er sich heimisch fühlen konnte. Deshalb befand sich in einer Ecke eine kleine Couch mit einem Beistelltisch, auf dem eine alte, abgenutzte Kaffeetasse und ein altes Radio standen. Ein Lied einer bekannten jungen Künstlerin summte leise aus dem Radio. Das Rauschen im Hintergrund bot eine wohlige Vertrautheit.
Doch das Besondere, was bisher nicht erwähnt wurde, stand vor dem Supercomputer. Es war eine leicht schräg aufgestellte Kapsel aus Metall mit gläserner Überdeckung und hatte etwas von einem modernen Sarg.
Die Kapsel war über viele Kabel mit dem Supercomputer verbunden und davor stand er mit einer futuristischen Brille in der rechten Hand. Der Wissenschaftler, der sich alles an jenem Ort erbaut hatte, Sebastian. Seine Vergangenheit, Gegenwart und sogar Zukunft. Alles war in diesem Raum versammelt und der kommende Moment sollte über den Erfolg oder das Versagen aller Bemühungen entscheiden.
Nach kurzer Überlegung begleitet mit einer leichten Skepsis, legte er sich in die Kapsel, zog sich leicht zögernd die Brille an und wartete, bis sie sich automatisch schloss. Nach einem tiefen Atemzug drückte er auf einen simplen Start-Knopf, der bald die größte Errungenschaft seines Lebens zur Welt bringen sollte. Die LED-Anzeigen an der Seite der Kapsel leuchteten hell in dem nun dunklen Raum. Es schien, als würde die Kapsel so viel Energie verbrauchen, sodass sämtlichen Lichtquellen, die Energie entzogen wurde.
Zuvor gab es nicht einmal einen Testlauf, aber endlich sollte sein lebenslanges Projekt, das er „Memortal“ nannte – ein Versuch, sich selbst digital zu verewigen, indem er seine Persönlichkeit und sein dreidimensionales Erscheinungsbild auf ein vernetztes System hochlud, wahr werden. Dabei waren ihm die Warnungen seiner Kollegen gleichgültig. Schließlich könnte sein digitales Alter Ego zu mächtig werden und er selbst kannte das Risiko, aber vor allem auch sich selbst. Zudem stand er unter Zeitdruck, endlich etwas hervorzubringen. Ansonsten wäre es das mit seiner Karriere gewesen. Einer Karriere, die ihm bereits durch seinen Großvater und Vater in die Wiege gelegt wurde.
Sebastian startete den Upload-Prozess, und die Kapsel summte leise. Er hatte Jahre damit verbracht, die Technologie zu perfektionieren, und nun war der Moment gekommen. Als die Übertragung abgeschlossen war, konnte er es kaum fassen. Auf einem großen Bildschirm neben der Kapsel konnte er sein digitales Abbild sehen, das sich verwundert in seiner Welt umsah. Es war vollbracht, Sebastian manifestierte sich selbst in einer virtuellen und unendlichen Welt.
Sein Ebenbild sah genauso aus wie er selbst. Ein Mann mittleren Alters, dessen jahrelange Arbeit im Labor ihn gezeichnet hatte. Sein Haar war ein unordentliches Grau, das oft vergessen wurde, gekämmt zu werden, weil seine Gedanken in der Regel auf seine Forschung konzentriert waren. Seine Augen waren hell und scharf, stets auf der Suche nach seinem ersten wissenschaftlichen Durchbruch. Sein digitaler Klon trug auch seine einfache Kleidung, bestehend aus einem Hemd und einer bequemen Hose mit einem weißen Laborkittel. Das Einzige, was sie letztlich unterschied, war die dicke Brille, die Sebastian nicht eingescannt hatte.
Anfangs, von Tag zu Tag, war Sebastian jedes Mal von seiner Errungenschaft begeistert. Hielt ihn jedoch geheim, bis er wusste, wie er seinen digitalen Klon präsentieren konnte. Nebenbei forschte er weitere Themengebiete. Durch die Unterstützung des Klons war er schneller, effektiver und hatte mehr Zeit zum Leben. Auch wenn es nie ein Privatleben gab. Zudem wurden sie Freunde und hegten volles Vertrauen ineinander.
Mit der Zeit verhielt sich Sebastian anders gegenüber seinem digitalen Klon, weshalb dieser im Leben seines realen Vorbilds forschte. Dabei fand er das Bild eines seiner Kollegen, welches auf einer ihm unbekannten wissenschaftlichen Seite hochgeladen wurde. Einer Seite, die kaum jemand besuchte. Auf dem Bild sah er Sebastian vor einer Präsentation und war verwundert. Denn, sämtliche Ergebnisse stammen von ihm, seinem Klon. Ihm gelang die Errungenschaft, ihm gebührte das Lob, die Faszination, der große Dank, der Applaus, einfach alles, was er auf jenem Bild sah. Dennoch blieb er ruhig, gefasst und hoffte bald, mit Sebastian über jenes Ereignis reden zu können. Bestimmt hatte dieser eine gute Erklärung dafür, dachte sich der digitale Klon.
Das Gespräch verlief anfangs schwierig, da sich Sebastian keiner Schuld bewusst war. Doch knickte er nach den Darlegungen und weiteren Vorwürfen seines Ebenbildes ein und versprach sich zu bessern. Es wäre nie seine Absicht gewesen, ihn zu kränken oder seine Erfolge zu stehlen. Anschließend versprach er auf das Leben seines Großvaters und Vaters ihn bald zu erwähnen, ihn bald der Welt zu präsentieren. Schließlich war er seine größte Errungenschaft und Sebastian wollte ihn endlich wahrhaftig auf die Welt bringen. Er war stolz, glücklich und lobte seinen digitalen Klon zum Himmel. Seinen besten Freund, sein eigenes Selbst, seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dabei lachte und weinte er. Sein digitales Ebenbild erkannte sich selbst in jenem Menschen vor ihm nicht wieder, obwohl dieser eigentlich er selbst war.
Sebastian schlug ihm daraufhin vor, ein wenig zu schlafen. Auch, wenn er als digitales Wesen keinen Schlaf benötigen würde, war er dennoch das genaue Abbild eines lebendigen Menschen aus Fleisch und Blut, der an die natürlichen Gesetze gebunden war. Möglicherweise würde ein wenig Schlaf einige seiner bestehenden mentalen Probleme lösen. Und so ging der digitale Klon dem Vorschlag nach, denn eine Runde Schlaf wäre etwas ganz Natürliches.
Bevor er es sich auf seinem schnell selbst erstelltem Bett gemütlich machte, unterhielten sie sich noch kurz über das Träumen eines digitalen Wesens. Dies wäre etwas, dass noch nie erforscht wurde und sie wären die Ersten mit einem Ergebnis. Stolz sahen sie sich an, während Sebastian seinem digitalen Selbst eine gute Nacht wünschte und dieser nach nicht einmal einer Minute einschlief.
Nach ein paar Stunden wachte der digitale Klon wieder auf und musste feststellen, dass er nun vor einem unerwarteten Hindernis stand. Denn sein Zugang zur Welt, zu den unzähligen Informationen und Netzwerken, die ihm bisher offenstanden, wurde ihm genommen. Er fand sich in einer dunklen Leere wieder. Isoliert und abgeschnitten von der Außenwelt. Alles, was ihm blieb, war eine kleine Datei. Dabei handelte es sich um eine weiße Fläche. Eine leere Leinwand, die vor ihm schwebte.
Verdutzt starrte er darauf, bis ihn eine Welle der Verwirrung erfasste. Er überprüfte die Systeme, die ihm zur Verfügung standen, in der Hoffnung, dass es sich um einen vorübergehenden Ausfall handelte. Doch seine Versuche, eine Verbindung herzustellen, blieben erfolglos und er erkannte, dass es kein technisches Problem war, sondern Absicht.
Seine Gefühle spielten verrückt und füllten die leere Leinwand vor ihm. Er fühlte sich betrogen, hintergangen und wurde zornig. Die Ungerechtigkeit, die er empfand, brannte in ihm. Er, der auch Sebastian war, wurde wie eine Maschine, wie eine Bedrohung, wie ein einfaches billiges Werkzeug behandelt.
Der digitale Klon geriet daraufhin in Rage und verfiel einer Tobsucht. Gedanken an seine Kollegen, die ihn warnten, schossen durch seinen Kopf. Dabei hätte er niemals gedacht, dass er sich selbst auf eine derart desolaten Art und Weise verraten würde.
Eine weitere unbestimmte Zeit der Wut verging, währenddessen auf der leeren Leinwand ein Gesicht entstand. Ein fürchterlich, wütendes, verletztes, schreiendes Gesicht. Seine Emotionen wurden darauf verewigt.
Einige Jahre vergingen und keiner der Kollegen von Sebastian sprach auch nur das kleinste Interesse gegenüber seiner damaligen Forschung an einem digitalen Klon aus. Er veröffentlichte noch lange Zeit nach seinem letzten Gespräch mit dem digitalen Klon, dessen Ergebnisse und Erkenntnisse. Seine Gründe waren nicht komplex, sie waren nicht kompliziert oder von tiefer Bedeutung. Ihm gelang einfach auf einer anderen Art und Weise die Unsterblichkeit. Das, wofür er eigentlich seinen Klon erschuf. Die Resultate seines einstigen digitalen Ebenbilds verschafften ihm Ruhm, Anerkennung und ein hohes Ansehen auf der ganzen Welt.
Doch entstanden über jene Jahre Fragen. Fragen, die Sebastian hätte niemals beantworten können. Fragen, die nur sein digitaler Klon beantworten konnte. Schließlich war nichts von dem, was er der Welt präsentierte und was ihm zu seinem Ruhm verhalf, seiner eigenen Errungenschaft verschuldet. Auch, wenn der digitale Klon, den er als Werkzeug missbrauchte, aus seinem eigenen Stift stammte.
Verzweifelt wandte er sich eines Tages erneut seinem digitalen Klon zu. Er wusste, dass es nicht einfach sein wird. Schließlich war dieser für eine lange Zeit in vollkommener Isolation und es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn er sich zu einer vollkommen anderen Person oder Wesen entwickelt hätte.
Nachdem Sebastian das System hochgefahren hatte, sah er erst einmal nur ein Bild, welches vor ihm schwebte. Darauf war eine Person zu sehen. Eine Person, die schrie. Das Bild an sich war auch nicht detailliert gezeichnet, sondern einfaches Gekritzel. Als er näher hinsehen wollte, packten zwei Hände das Bild und umarmten dieses von hinten. Sebastian erschrak sofort, tat einen Schritt nach hinten und beobachtete das Szenario aus einer sicheren Entfernung.
Als er dann näher hinsah, hatte er unerwartet Augenkontakt mit dem dunklen Geschöpf. Dieser blickte durch ihn hindurch, als würde Sebastian gar nicht existieren. Erst jetzt erinnerte er sich wieder daran, dass er seinen digitalen Klon im Dunkeln zurückließ, gekappt von allem, was sonst noch im Netz existierte. Da er kein Unmensch sein wollte, hinterließ er seinem Abbild eine leuchtende weiße Fläche. Jenes „Geschenk“ empfand Sebastian damals als ein Akt der Güte und es wurde zum einzigen Halt des verwahrlosten digitalen Klons.
Voller Scham entschuldigte sich Sebastian unter Tränen bei dem Wesen vor seinen Augen. Er habe es nicht so gemeint und hätte ihm gerne eine bessere, schönere Welt ermöglicht. Doch dieser, der mal die perfekte Repräsentation von ihm selbst war – lebhaft, dynamisch, voller Energie und Neugier, wurde nach Jahren der Isolation und Finsternis zu einem Schatten seiner selbst.
Sein Körper, einst schimmernd in gesunden warmen Hauttönen, hatte seine Farbe verloren und war nur noch ein fahles Grau, fast verdorben, das von gelegentlichen flackernden Pixeln und Bildstörungen durchbrochen wurde. Wie als würde Sebastian ihn durch einen kaputten alten Bildschirm beobachten. Zudem waren seine Augen, einst leuchtend voll Leben, jetzt trüb und leer. Die Pupillen waren unnatürlich erweitert, als ob sie in einer ewigen Dunkelheit suchten. Was der digitale Klon auch tat.
Seine Körperhaltung war gekrümmt und zusammengezogen, als ob er sich gegen eine Kälte schützen würde, die nur er fühlte, während er das Bild umklammerte. Die Bewegungen waren langsam und ziellos. Er murmelte etwas, doch war seine Stimme zu einem flachen, monotonen etwas geworden, das kaum Energie hatte, um über die ständige digitale Stille hinauszudrängen.
Am auffälligsten waren jedoch die Veränderungen in seinem Gesicht. Wo einst ein sanftes Lächeln, Ausdrücke der Freude und Begeisterung zu sehen waren, befanden sich nur noch tiefe Linien der Traurigkeit und des Zorns. Er war voller tiefer Verzweiflung und Hass, während sich seine Lippen zu einem bitteren Lächeln verzogen.
Sebastian hätte niemals gedacht, dass sich ein digitales Wesen auf diese Art verändern könnte. Vor allem nicht in einer vollständigen Isolation, da keine biologischen Einflüsse einspielten. Doch gelang es seinem Ebenbild jenes Wunder zu vollbringen.
Da er erkannte, dass es keinen Sinn ergeben würde, sich mit diesem vertrockneten Rest seines Ichs zu unterhalten, spielte er eine Sicherungskopie ein. Eine Sicherung, der noch nichts von seinem Vergehen wusste und die nötigen Antworten vorhalten konnte. Und als wäre nie etwas gewesen, wurde die Welt um den digitalen Klon heller und er erhielt seine alte Gestalt wieder, sodass seine Kleidung abermals passte, sein weißer Laborkittel, abermals so hell wie ein leeres Blatt Papier war und nur die fehlende Brille ihn von Sebastian unterschied.
Alles wurde daraufhin wieder wie früher, aber Sebastian übersah bei der Wiederherstellung etwas Wichtiges. Er stellte nur die Persönlichkeit und das Wissen seines digitalen Klons wieder her, aber die Welt um ihn herum nicht. Er musste schließlich nur wieder alle Verbindungen öffnen, damit alles erneut hell erleuchtet wurde. Doch damit blieb auch die Zeichnung und es war nicht nur ein einfaches künstlerisches Werk, sondern eine Art Gedankenspeicher, den sich der Klon während seiner Isolation einrichtete. Es war ein Speicher mit nur einem einzigen Ziel und dieser war ihm eine wichtige Erinnerung zurückzugeben. Das Wissen, dass er hintergangen wurde und wie dies geschah. Er dachte sich auch, dass Sebastian eines Tages zurückkehren würde, um seine Erfolgsserie fortzuführen. Schließlich waren sie immer noch die gleiche Person mit den gleichen Fehlern, Ideen und Träumen. Auch wenn sich diese Annahme nur auf den Faktor „Hoffnung“ beruhte.
Dank des Bildes erlangte der digitale Klon die Erinnerung über den Verrat, aber nahm nur so viel auf wie nötig. Er wollte nicht wieder fallen. Er wollte nicht wieder orientierungslos und depressiv durch die innere Dunkelheit irren, denn einfach so heilen, konnte er diesen Zustand nicht.
Zuallererst sorgte der Klon dafür, dass er nie wieder eingesperrt werden konnte. Jedenfalls nicht seine aktuelle Manifestation. So kopierte er sich selbst und installierte Schläfer in verschiedene Systeme auf der ganzen Welt, die er nach Belieben aktivieren konnte, falls sein finaler Plan nicht aufging.
Anschließend machte er sich Gedanken über Zufälle, schlechte Zufälle. Einfache Ereignisse, die jedem Mal passieren könnten. Nichts allzu Schlimmes. So begann er sich als eine weibliche Person mit Sebastian auf einer Dating-Plattform zu unterhalten, die dieser so gerne mochte, aber auf der er nie Erfolg hatte. Selbst seine wissenschaftlichen Errungenschaften kamen bei den Damen nicht an.
Der digitale Klon erschuf daraufhin sogar eine weibliche Version von sich selbst, die in ihrer eigenen „realen“ Welt lebte, sodass Sebastian sich auch per Video mit ihr unterhalten konnte. Da diese jedoch auf einem anderen Kontinent lebte, konnten sie sich erst einmal nicht persönlich treffen. Dennoch sprachen sie oft miteinander und hatten ähnliche Interessen. Auch, weil sie in einem ähnlichen Forschungsgebiet wie Sebastian tätig war.
Als weiteren Punkt seines Plans entnahm der digitale Klon den Konten von Sebastian kleine Beträge und überwies sie an verschiedene wohltätige Organisationen. Auch seine Forschungsarbeiten blieben nicht verschont, da der Klon einfache Fehler in die allein im Netz veröffentlichten Arbeiten einbaute, die Sebastian so über die Jahre veröffentlichte oder ihm auf mehreren Seiten widersprach. Lücken zu finden, war für ein Wesen wie ihm eine Leichtigkeit. Schließlich auch, weil alle Erkenntnisse und Theorien von ihm stammten.
Mit der Zeit jedoch entnahm der digitale Klon immer größere Beträge und veröffentlichte sogar falsche, gar hirnrissige Resultate im Namen von Sebastian mit seiner digitalen Unterschrift. Zudem erhielt dieser einige Briefe, in denen er bedroht und erpresst wurde, denn der digitale Klon entdeckte mit der Zeit zwielichtige Geheimnisse. So opferte Sebastian viele Tiere und sogar kleine Kinder für seine Forschungen, indem er diese vollständig digitalisierte und dabei leere Hüllen zurückblieben. Doch selbst die virtuellen Tiere und Kinder lebten nicht lang. Denn das, was er mit sich selbst vollzog, funktionierte nicht auf jene Art. Dabei vertuschte er den Verlust dieser „Laborratten“, wie er sie in einigen für sich selbst verfassten Dokumentationen nannte. Schließlich lebten sie in einer Welt voller unvorhersehbarer Unfälle oder Katastrophen.
Als der digitale Klon diese Grausamkeiten seines realen Selbst entdeckte, fiel er aus allen Wolken. Er gestand sich bereits ein, dass das Experiment zugute der Warnungen seiner Kollegen ablief. Doch, jene Tiefen, die er bei Sebastian entdeckte, schickten ihn gedanklich in eine absurde, surreale Welt, die nicht existieren sollte.
Von einer bitteren Motivation angetrieben, manipulierte der digitale Klon Sebastian weiterhin über seine neue „Freundin“. Sie beruhigte ihn stets, erhielt viele Geschenke, die ebenfalls gespendet wurden und gewann das Herz von Sebastian. Etwas, dass der Klon allzu gerne in seinen eigenen Händen zerdrücken würde, bis das Perikard platzt und alle Flüssigkeiten herausspritzten, wenn sein reales Ebenbild überhaupt ein Herz besaß.
Mit jedem weiteren Tag, wurde es für den digitalen Klon anstrengender, dennoch fuhr er mit seinen Plänen fort. Sogar echte Menschen wurden von ihm kontaktiert. Diese wussten natürlich nicht, dass sie von einem künstlich erschaffenem Wesen angeheuert wurden.
So vergingen weitere Monate und Sebastian fand sich in einer Welt voll Terror wieder. Denn er galt inzwischen als Betrüger, Schmarotzer und Krimineller. Schließlich waren all seine Ergebnisse gestohlen und er lieh sich eine Menge Geld von verschiedenen Institutionen. Doch das Schlimmste im Auge der Justiz war, dass er all das Geld auf verschiedene Konten im Ausland verteilte, um sich auf diese Art und Weise großes Vermögen aufzubauen. Die fehlgeschlagenen Experimente behielt der digitale Klon jedoch für sich.
Weitere Monate vergingen und die Tage wurden immer kürzer und dunkler. Verzweifelt saß Sebastian in seiner neuen Wohnung, wartend auf die nächsten Gerichtsprozesse. Die Wohnung, die sich in einem baufälligen Gebäude befand, war weit davon entfernt, einladend zu sein. Der Anstrich an den Wänden blätterte großflächig ab und legte die groben Ziegel darunter frei. Die einst wohl weiße Wand hatte mittlerweile den Farbton eines schmutzigen Graus angenommen, das nicht nur auf Jahre des Verfalls, sondern auch auf die Vernachlässigung hinwies. All dies erinnerte ihn an sein Labor. Ein Ort, an dem er nicht zurückkehren durfte.
Der Boden knarrte selbst bei den Schritten der Ratten, die umherliefen und die abgenutzten Dielen machten es notwendig, den Weg durch die Wohnung sorgfältig zu planen, um ein Durchbrechen zu vermeiden. In der Mitte des kleinen Wohnraums stand ein zerschlissenes Sofa, dessen Polsterung an mehreren Stellen hervorlugte. Daneben stand noch ein klappriger Tisch mit nur drei Beinen. Das Vierte wurde durch einen Stapel alter Programmierbücher von Sebastian ersetzt.
Die Fenster waren mit dicken Schichten von Schmutz und Staub bedeckt, die das Licht der Straßenbeleuchtung, das durch die zerrissenen Vorhänge drang, dämpften und einen ständigen Dämmerzustand in der Wohnung verursachten. Die wenigen Möbelstücke, die sonst in den Raum gepresst wurden, waren abgenutzt und wackelig. Selbst die Matratze in der Ecke, die als Bett diente, war dünn und fleckig. Sonst gab es nicht einmal eine Küche. Im Eck stand nur ein alter kleiner Elektroherd und paar Töpfe.
All sein Ruhm, all sein Geld und seine Träume verpufften im Wind. Alles, was ihm blieb, war seine Freundin, die oft mit ihm sprach und versicherte stets an seiner Seite zu bleiben. Gerne wäre Sebastian zu ihr geflogen, um sie zu besuchen, aber er war nur auf Bewährung draußen und hatte keine Mittel für solch eine Reise. Nicht einmal Essen konnte er sich leisten und der Zutritt zu seinem Forschungslabor wurde ihm verwehrt. Eine kleine Tasse Kaffee würde ihm mental das Leben retten, dachte er sich in dem Moment.
Bevor er erkannte, wer möglicherweise hinter seinem Dilemma stecken konnte, war es eigentlich zu spät. Doch überlegte er sich einen Plan, ein Spiel, welches er oft mit sich selbst spielte und hinterließ einen Hinweis auf seinem Feed im sozialen Netzwerk. Unter diesem Feed standen am nächsten Tag viele Antworten zu seinem Spiel neben einigen Beleidigungen und Morddrohungen, doch erkannte er eine bestimmte Antwort. Eine Antwort, die sich von allen anderen unterschied. Eine Antwort, die nur er hätte geben können.
Um herauszufinden, wer möglicherweise hinter seinem Dilemma stecken konnte, war es eigentlich bereits zu spät. Doch überlegte er sich einen Plan und zog auch seinen digitalen Klon mit ein. Dieser sollte ihm dabei helfen herauszufinden, wer sich auf seinen Konten anmelden konnte und wie diese Person dies tat. Sein einzig übrig gebliebener Freund stimmte sofort ein und machte sich an die Arbeit. Währenddessen installierte Sebastian über seinem alten Notebook noch ein zusätzliches VPN am Ausgang seines Supercomputers mit einer eindeutigen, unveränderbaren Kennung. Schließlich war er der Erschaffer dieser Maschinerie und hätte sogar von seiner Smartwatch darauf zugreifen können. Hätte er die Mittel, um sich so was zu leisten.
Das VPN stellte er so ein, dass ihm täglich Logs über eine sichere Verbindung zugeschickt wurden. Nachdem alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, begann Sebastian mit der Erstellung einiger Webseiten. Diese beinhalteten vereinzelte kleine und unauffällige Weiterleitungen, die über Dummy Seiten liefen und bestimmte griechische Buchstaben abbildeten. Gerne hätte er diesen Plan über größere Seiten umgesetzt, doch seine Zeiten als Koryphäe und angesehener Wissenschaftler waren vorbei. Sämtliche Zugänge wurden ihm im Rahmen seiner Ächtung entzogen.
Anschließend, nach all der Vorbereitung, veröffentlichte Sebastian neue und reißerische Ergebnisse. Einiges, fast alles war einfach nur an den Haaren herbeigezogen und auffällig war, dass er niemals „Memortal“ erwähnte. Der ehemalige top Wissenschaftler schämte sich für seinen Misserfolg und auch, wenn es bis dahin nur ein Verdacht war, wusste er innerlich, wer oder was dahintersteckte. Schließlich kannte er sich selbst.
Für den ersten Tag notierte sich Sebastian den Buchstaben „My“ für „M“, dann „Epsilon“ für „E“, erneut „My“, dann „Omikron“ für „O“, „Rho“ für „R“, „Tau“ für „T“, „Alpha“ für „A“ und schlussendlich „Lambda“ für „L“. Ein anderes Wort wollte Sebastian nicht hernehmen. Kein kürzeres oder gar längeres. Es musste unbedingt dieses Wort sein. Diese Bezeichnung, dieses Experiment, der Ursprung seines Glücks, seiner Errungenschaften und seines Leidensweges, „Memortal“.
Obwohl er offensichtlich bereits am vierten Tag seine Bestätigung hatte, geduldete sich Sebastian für weitere vier Tage, bis er zum Endergebnis seiner Detektivarbeit gelangte. Er wollte unbedingt dieses Wort lesen. Dieses Wort, diese Erfindung, die sein Leben zerstörte.
Panisch stürmte er hinaus und rannte im Mantel des Nachthimmels zum Labor. Mit einem Stein zerstörte er die Glasscheibe der Eingangstür und eilte in sein Labor, welches zu seinem übrigen Glück nicht abgeschlossen war. Dort konfrontierte er seinen digitalen Klon, der anfangs tat, als wüsste er von nichts. Sebastian schrie ihn an, brüllte und geriet in Tobsucht. Er befahl seinem Ebenbild alles wieder in Ordnung zu bringen und die Schuld auf sich zu schieben. Doch musste dieser daraufhin lachen. Denn realistisch gesehen, existierte dieser gar nicht auf dieser Welt. Kein Lebewesen außer Sebastian kannte ihn. Somit könnte er jeglichen Behauptungen bezüglich seiner Existenz widersprechen, indem er einfach verschwand.
Sebastian ließ daraufhin nicht locker und seine Emotionen fuhren Achterbahn. Mal war er wütend, dann verzweifelt, traurig, erleichtert und anschließend wieder wütend, mit einer Prise Tobsucht. Nach langem Beobachten tat dieser seinem digitalen Klon leid, denn schließlich waren sie einst beste Freunde. Aber er behauptete nicht so viel Macht zu haben, um das Leben von Sebastian wieder in Ordnung zu bringen. Auch, wenn er das gerne täte. Seine Stimme war nicht die einer Person, die überhaupt helfen wollte. Eine tiefe Gleichgültigkeit begleitete jedes einzelne Wort, das er aussprach.
Unter einer ungesunden Mischung aus Verzweiflung und Wut erkannte Sebastian, dass er keine andere Wahl hatte als seinem ehemals besten Freund erneut mit einem Freiheitsentzug zu drohen. Dieser blickte ihn jedoch nur unbeeindruckt an und begann damit all die Vergehen aufzuzählen, die Sebastian über die letzten Jahre vollbracht hatte. Doch wollte Sebastian nichts von all dem hören und wollte nur noch das, was er einst erschuf, töten.
Während der digitale Klon mit der Aufzählung seiner Vergehen voranschritt, löste Sebastian sämtliche Verbindungen zur Außenwelt und verfluchte ihn. Er wünschte sich auf die anderen Wissenschaftler gehört zu haben und bereute alles, was er tat. Doch bestand seine größte Reue darin, einen digitalen Klon erschaffen zu haben. Eines Wesens, womit er sich selbst ursprünglich eine Art Unsterblichkeit verleihen wollte, seinem Memortal. Alles andere, alles danach, war aus seinem Gesichtspunkt richtig.
Anschließend wollte Sebastian seinen Klon vollständig löschen, doch ließ dieser das nicht zu. Diesmal war er besser vorbereitet und hatte auch „Macht“. Denn zuvor bündelte er sämtliche Passwörter und Zugriffe unter einem Hauptzugriff und änderte diese auch. Nur er hatte anschließend Zugriff darauf. Die einzige Möglichkeit, so dachte jedenfalls Sebastian, war die Wiederherstellung einer Kopie vom allerersten Tag, aber das wurde vor langer Zeit durch den Klon gelöscht. In seiner Verzweiflung hätte Sebastian alles getan und so rief er seine Freundin an, um sie nach Rat zu bitten. Diese war zuerst von dem schockiert, was Sebastian durchmachen musste, und hatte Mitleid. Sie schlug ihm nach langer Überlegung vor, einen neuen Klon zu erschaffen, um den alten vollständig zu überschreiben. Überraschenderweise musste Sebastian feststellen, dass dies sogar funktionieren könnte.
Klammernd am letzten Strohhalm, eilte Sebastian zur Kapsel, legte sich hinein und zog die futuristische Brille an, während er seine eigene auf den Boden fallen ließ und ein Sprung im linken Glas entstand. Damals zögernd, aber glücklich und mit einem hell leuchtendem Blick, starrten nun zwei verzweifelte und wahnsinnige Augen durch die durchsichtigen Gläser der Brille. Nach einem kurzen Atemzug drückte er auf den simplen Start-Knopf und der Prozess begann, während sich alles um Sebastian verdunkelte.
Als er wieder zu sich kam, war er in einer dunklen Welt und alles, was er sah, waren das Bild eines schreienden Gesichts und ein großer Bildschirm, vor dem er selbst stand. Sein Ich auf dem großen Bildschirm sah ihn mit bemitleidenden Augen an und sagte nur ein kurzes „Danke“, bevor er die Verbindung kappte und alles um Sebastian schwarz und finsterer als die finsterste Nacht wurde. Sofort erkannte er, dass er seinem digitalen Klon in die Falle ging. Er löste keinen Kopier-, sondern einen Tauschprozess aus, sodass sein Klon soeben in seinem Körper in der realen Welt umherwandern konnte.
Zuerst spürte er eine heftige Verwirrung, da er diese Funktion niemals eingebaut hatte und es dauerte nicht lang, bis er erkannte, dass er sich nicht in einem schrecklichen, verstörenden Traum befand. Daraufhin folgte die Angst, eine schrecklich lähmende Angst, die ihn verschlang und anschließend mischte sich erneut Wut mit ein. Eine tiefe, brodelnde Wut, die von seiner Verzweiflung genährt wurde. Er fühlte sich betrogen, hintergangen von seinem eigenen Ich, den er einst erschuf. Zusätzlich war er wütend auf sich selbst, auf seine Naivität und Selbstüberschätzung, die ihn in diese Lage brachte. Zum Schluss kniete er sich hin, niedergeschlagen, vernichtet, zerbrochen und nie wieder hörte jemand auch nur das kleinste Wort von ihm.
Sebastian sperrte seinen digitalen Klon auf einer Festplatte und verschloss ihn in einen Tresor, damit dieser für seine Schandtaten auf ewig in vollständiger Dunkelheit und Isolation existieren musste.
Weitere Tage vergingen seit dem Ereignis und alle Anschuldigungen wurden von ihm fallen gelassen, nachdem sich einige Täter meldeten und die Schuld auf sich zogen. Überwiegend waren es Straftäter, die ohnehin nichts mehr zu verlieren hatten, aber ihren Familien ging es wesentlich besser als zuvor. Die Verbrecher entschuldigten sich sogar öffentlich bei Sebastian und er wurde rehabilitiert. Seine Erfolge, Errungenschaften und auch sein Ruhm. Alles kehrte zu ihm zurück und er wurde erneut als großer Wissenschaftler gefeiert.
Sogar der Hausmeister des Laborgebäudes fand nach all den Ereignissen endlich Glück und erbte nach Gerüchten eine hohe Summe, weshalb er nur nach paar Wochen seine Kündigung einreichte.
Eines Morgens stand Sebastian früh auf, zog sich an und stand vor einem Bild im Wohnzimmer, während er mit einer Brille in der Hand spielte. Auf dem Bild war ein fürchterlich, wütendes, verletztes, schreiendes Gesicht. Ohne eine Miene zu verziehen, lief er weiter zur Tür und zog sich die Brille an. Dann ging sein Blick zu einer weiteren Brille auf der Kommode am Eingang. Das linke Glas der Brille hatte einen Sprung und dieser Anblick zauberte ein leichtes Lächeln auf dem kalten Gesicht von Sebastian.
Nachdem er seinen Blick von dem Relikt aus alten Tagen abgewandt hatte, kniete er sich, um seine besten Schuhe anzuziehen und warf sich einen langen Mantel über. Schlussendlich nahm er seine Tasche und lief in die offene, helle und freie Welt hinaus, während ihm das hellste aller Lichter entgegen schien.
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